Was haben die Trümmer vom Berliner Stadtschloss, das größte Lenin-Denkmal der DDR und die Köpenicker Zauneidechse gemein? Warum wird eine Statue erst errichtet und gefeiert, dann abgerissen und verscharrt, und nun wieder ausgegraben und aufgestellt, aber nicht alles, sondern nur der Kopf? Und wieso kann niemand in Berlin sagen, wo dieser Kopf liegt, aber ausgerechnet ein Amerikaner weiß Bescheid?
Der steinerne Lenin, der einst auf dem Platz der Vereinten Nationen stand, hat eine turbulente Geschichte hinter sich. Es ist eine Geschichte über den Umgang mit einem Helden, der kein Held mehr ist. Ein Lehrstück darüber, dass man Vergangenheit verstecken, aber nicht vergessen kann.
Es war nicht das erste Lenin-Denkmal in der DDR, aber es sollte das größte und mächtigste im ganzen Land werden: 19 Meter hoch, der Sockel 26 Meter breit, schwerer ukrainischer Granit, auf einem neu gestalteten Platz mitten in Ost-Berlin. Eine Bühne für den Helden der Oktoberrevolution.
Lenin, mit bürgerlichem Namen Wladimir Iljitsch Uljanow, war der weltweit erste kommunistische Regierungschef und Begründer der Sowjetunion. Um keinen politischen Führer wurde so viel Kult betrieben wie um ihn. Noch zu Lebzeiten baute man ihm im russischen Noginsk ein Monument, und als er 1924 starb, wurde sein Körper nicht vergraben, sondern einbalsamiert und auf dem Roten Platz in Moskau in einem Mausoleum aufgebahrt, wo er bis heute besichtigt werden kann. Weltweit gibt es rund 6000 Lenin-Skulpturen, laut Guinness-Buch der Rekorde liegt nur Buddha vor Lenin. Ein Denkmal befindet sich in einer antarktischen Forschungsstation. Lenin und sein Revolutionsgedanke sollten in die ganze Welt transportiert werden.
Der Beschluss, Lenin südlich vom Volkspark Friedrichshain in Berlin ein Denkmal zu setzen, fiel im Oktober 1961, wenige Wochen nach dem Mauerbau, zur Hochzeit des Kalten Krieges. SED-Chef Walter Ulbricht hatte gerade in Moskau ein sieben Meter hohes Karl-Marx-Denkmal eingeweiht und der sowjetischen Bruderpartei versprochen, den Aufbau des Sozialismus in der DDR bis zum Jahr 1964 erfolgreich abgeschlossen zu haben. Drei Jahre waren nicht viel Zeit, und eine symbolische Geste wenigstens ein Anfang. Kaum war Ulbricht in Ost-Berlin gelandet, beschloss die Stadtverordnetenversammlung, einen Platz zu bauen, der Lenins Namen trägt und in dessen Mitte ein großes Monument an den Führer der sozialistischen Oktoberrevolution erinnert. Es gab keine Gegenstimmen und stürmischen Beifall.
Hermann Henselmann entwarf den Platz, die Projektierung übernahm Heinz Mehlan, der auch die Stadtbibliothek in der Breiten Straße gebaut hatte. Drei Häuser mit jeweils 17, 21 und 25 Stockwerken waren geplant, drumherum Elfgeschosser in Ringform, eine Gaststätte, ein Café, ein Postamt, ein Blumenladen, ein Souvenirgeschäft, ein Kindergarten, eine Schule sowie die modernste Kaufhalle Ostberlins.
Im November 1968, anlässlich des 51. Jahrestages der Oktoberrevolution, wurde der Grundstein für den Leninplatz gelegt. 10.000 Menschen schauten zu. Walter Ulbricht kündigte an, der Platz werde "einer der schönsten Plätze des sozialistischen Berlins sein und von der Sieghaftigkeit des Marxismus-Leninismus im sozialistischen Staat deutscher Nation künden".
Anschließend wurde der erste Betonmischer angeworfen und das Kampflied "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" angestimmt. Der Journalist Karl-Heinz Gerstner wies in der Berliner Zeitung darauf hin, dass die Urkunde über die Grundsteinlegung des Leninplatzes, "die gestern in das Fundament eingemauert wurde", von einem Computer geschrieben worden sei.
Mit dem Bau des Denkmals wurde Nikolai Tomski, Präsident der sowjetischen Akademie der Künste, beauftragt. Er wolle "Lenin nicht als Agitator, sondern in ruhiger, schlichter, jedoch siegeszuversichtlicher Haltung zeigen", sagte er in einem Interview mit der Zeitung Neue Zeit. Drei Lenin-Entwürfe bot er an. Der Magistrat bat darum, auch noch eine große Fahne mit aufzunehmen.
Tomskis Atelier befand sich in Moskau, dort baute er Lenin zunächst aus Gips, zerlegte ihn in 13 Teile und begann dann in den Werkstätten der Akademie in Mitischewa, nicht weit von Moskau, mit der Arbeit am Granit, den er aus der Nähe von Kiew holen ließ. Am Ende waren es 110 Granitblöcke, die jeweils vier bis sechs Tonnen wogen und in Berlin von russischen Steinmetzen und Künstlern des VEB Stuck und Naturstein zusammengesetzt wurden.
Beim Transport gab es Probleme. Es war ein harter und langer Winter, und ein paar der Laster mit Lenins Körperteilen blieben in Polen in Schneewehen stecken und irrten beim Versuch, geräumte Straßen zu finden, wochenlang durchs Land. So kam es, dass obere Teile des Denkmals bereits in Ost-Berlin eingetroffen waren, während untere noch fehlten. Die Montage verschob sich. Die Aufregung muss groß gewesen sein, aber darüber ist in der DDR-Presse nichts zu lesen, über die Einweihung, drei Tage vor Lenins 100. Geburtstag dafür umso mehr.
Es war der 19. April 1970, 200.000 Menschen versammelten sich um den neuen Platz mit seinen neuen Häusern und dem neuen Denkmal. Wieder gab es stürmischen Beifall. Wieder sprach Ulbricht, der Mann, der das Berliner Stadtschloss abreißen ließ. Diesmal sagte er: "Dieser Platz legt Zeugnis davon, dass die Arbeiterklasse und alle Werktätigen unseres Landes Wladimir Iljitsch lieben und verehren, dass sie seine Lehre beherzigen und all ihre schöpferischen Kräfte für den Sieg des Sozialismus einsetzen."
Der Sieg des Sozialismus. Tja.
Die Dinge kamen anders als erwartet. 1986 legte Michail Gorbatschow noch einen großen Nelkenkranz am Lenin-Denkmal nieder. Aber bereits wenige Jahre später war alles vorbei: Die Mauer eingerissen, Walter Ulbricht tot, sein Nachfolger im Exil - und Lenin kein Held mehr.
Der Kapitalismus, den er ausrotten wollte, hatte gesiegt. Da halfen alle Denkmäler nichts. Es war das Jahr 1991. Helmut Kohl regierte das Land. In Berlin hatten die CDU und SPD die Wahl gewonnen und versuchten, Ordnung in die wiedervereinigte Stadt zu bringen. Ihre Ordnung. DDR-Politiker und Soldaten der Roten Armee wurden von der Ehrenbürger-Liste gestrichen, Straßen umbenannt, sogar die East Side Gallery und die Stalinbauten in der Karl-Marx-Allee standen zur Debatte und natürlich die Denkmäler: Marx und Engels am Lustgarten, Thälmann in der Greifswalder Straße, das größte Ärgernis aber war Lenin am Leninplatz, das größte und altmodischste Denkmal von allen, ein Paradebeispiel für Personenkult, ein Symbol für die Macht des Sozialismus, selbst dann noch, als diese Macht verloren war.
Im März 1991 forderte die Junge Union den Abriss des Lenin-Denkmals. Kurze Zeit später sagte Friedrichshains SPD-Bürgermeister Helios Mendiburu, Lenin müsse weg. Mendiburu war 1956 bei Protesten vor der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin festgenommen worden und der Überzeugung, Lenin habe den Grundstein für den Stalinismus gelegt. Am 18. September 1991 beschloss die Friedrichshainer Bezirksverordnetenversammlung mit 40 zu 13 Stimmen den Abriss des Denkmals am Volkspark und bat den Senat um Unterstützung.
Das ließ sich Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister der Stadt, nicht zweimal sagen. Am 1. Oktober 1991 forderte der CDU-Politiker, nicht nur Lenin abzureißen, sondern auch gleich noch den Palast der Republik. Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) sagte, "die Abtragung sei eine Fortsetzung und somit Bestandteil der 1989 eingeleiteten friedlichen Revolution", weshalb das öffentliche Interesse gebiete, den Denkmalschutz aufzuheben.
Der Berliner SPD-Chef Walter Momper warnte vor zu schnellen Entscheidungen und schlug vor, Lenin lieber vom Aktionskünstler Christo verhüllen zu lassen, der Künstler Manfred Butzmann wollte das Monument mit Efeu bewachsen und der damalige Berliner Landeskonservator Helmut Engel es mit Wasser unterspülen lassen, damit es leicht kippt und schief dasteht. Engel gab auch zu bedenken, dass Lenin auf der Denkmalliste stand, aber Listen waren kein Hindernis. Damals nicht. Am 30. Oktober beauftragte der Senat die Baufirma Hartmann mit der "fachgerechten Demontage und dem Abtransport des Lenin-Denkmals". Unter dem Zusatz "Es gilt als besonders vereinbart" heißt es: „Die Arbeiten sind unverzüglich zu beginnen.“
Fragt man einige der Männer, die damals am Abriss beteiligt waren, heute, ob die Entscheidung richtig und die Eile nötig war, fallen Wörter wie Abwägungsprozess und Entsorgungsentscheidung. Landeskonservator Helmut Engel, der 1978 die Säulen der Siegesallee vor dem Schloss Bellevue ausbuddeln ließ, sagt, er habe Hassemer immerhin davon abhalten können, Lenin zu zertrümmern, mehr sei nicht dringewesen. "Da bricht über Nacht ein Staat weg und mit ihm sein ganzes Grundgerüst. Das Ding stand in der Denkmalliste und das war zu erhalten, aber gegen die Erhaltung stand der öffentliche Zorn, für den ich nicht zuständig bin."
Eberhard Diepgen, der Lenins Abriss damit begründet hatte, dass "Repräsentanten von Diktaturen, in denen Menschen verfolgt und ermordet worden werden, nicht ins Stadtbild passen", sagt: "Wir müssen achtgeben, dass wir in der historischen Darstellung der Stadt und im historischen Bewusstsein nicht die Phase der DDR überbewerten".
Auf die Frage, was an dem Gerücht dran sei, Lenins Abriss sei ein Geschenk zu seinem 50. Geburtstag gewesen, antwortet er, absoluter Unsinn sei das. "Wahrscheinlich eine dieser polemischen politischen Kampfparolen, die damals immer mal auftauchten." Helios Mendiburu, der ehemalige Bürgermeister von Friedrichshain, ist nicht zu erreichen. Er lebt heute in Vietnam. Jürgen Erichson, Bauleiter der Abrissfirma Hartmann, die sonst vor allem Brunnen in Fußgängerzonen gebaut hat, sagt, er habe nie über richtig oder falsch nachgedacht. "Ich fand, dass es eine interessante Aufgabe war, auch mal was abzureißen!"
Erichson sitzt zwischen alten Fotos, Zeitungsartikeln und Aktenordnern auf dem Sofa seines Wohnzimmers in Reinickendorf, ein hagerer Mann mit hochgebürsteten Haaren, ein Rentner, der auf sein Lebenswerk zurückblickt. Er hat alles aufgehoben, auch den Auftrag vom Senat, in dem es heißt, die Arbeiten sollten 78110 D-Mark kosten und seien bis zum 8.11.1991 abzuschließen. Erichson lacht wie über einen guten Witz. Am Ende waren sie bei 172660 D-Mark, und bis das letzte Granitteil nach Köpenick gebracht wurde, dauerte es vier Monate. Nein, die Tomski-Witwe, die noch in letzter Minute klagte, und die Bürgerinitiative, die Eier auf seine Leute warf und Bretter vom Gerüst, seien nicht das Hauptproblem gewesen. Es war Lenin an sich. Er ließ sich einfach nicht auseinanderschneiden, der Granit war zu hart, und im Inneren des Denkmals befanden sich Stahlträger und Schienen, die offenbar eingebaut worden waren, damit das Denkmal besser hält. Straßenbahn- und Eisenbahnschienen! Erichson schüttelt den Kopf. "Sie glauben ja nicht, was wir da alles gefunden haben."
Oben, an der Fahne, haben seine Leute angefangen mit dem Abriss, mit Sprengsätzen, Presslufthämmern und Keilen, und sich dann langsam nach unten gearbeitet. Den Kopf vom Rumpf abzutrennen und auf den Sattelschlepper zu laden, dauerte alleine vier Wochen. An einem grauen deutschen Wintermorgen schwebte er ein letztes Mal über den Leninplatz, ein Bild, das um die Welt ging. Als Symbol für den Untergang nicht nur eines Landes, sondern eines ganzen Systems.
Jürgen Erichson hat ein Video aufgenommen, damals im Winter 1991. Und manchmal setzt er sich mit seiner Frau bei Kaffee und Kuchen vor den Fernseher, schiebt die Kassette ein und sieht sich an, wie sie Lenin zerlegten. Stück für Stück.
Warum wurde ausgerechnet die Seddiner Heide als Ruhestätte für Lenin ausgesucht? Und wer hat das entschieden? Der Senat schiebt es auf das Forstamt. Das Forstamt spricht von einer politischen Entscheidung. Der ehemalige Bauleiter Jürgen Erichson sagt, ihm sei lediglich mitgeteilt worden, wo die Teile abgeladen werden sollen, warum ausgerechnet in Köpenick, wisse er nicht. Der ehemalige Landeskonservator Helmut Engel sagt: "Mit der Umsetzung hatte ich nichts mehr zu tun."
Die Seddiner Heide befindet sich am südöstlichen Rand von Berlin, auf einer Halbinsel zwischen Seddinsee und Großer Krampe, einem ruhigen waldreichen Gebiet, mit einer Sandgrube in der Mitte. Nach Kriegsende wurden hier Trümmer von zerbombten Häusern abgeworfen und auch vom alten Berliner Stadtschloss, das 1950 gesprengt worden war. Der Schutt kam per Boot über den Kleinen Seddinsee und wurde dann im Güterzug in den Wald gebracht. Es habe damals sogar Bahngleise gegeben, sagt Marc Franusch, Sprecher der Berliner Forsten.
Als Lenin kam, im November 1991, waren die Gleise weg, aber unweit der Grube gab es noch einen alten NVA-Schießplatz, zu dem eine kleine Straße führte, und auf dieser Straße holperte der steinerne Revolutionsführer in seinen 129 Einzelteilen auf einem Sattelschlepper durch den Wald. Das erste, ein Stück von der Fahne, kam im November 1991, das letzte, ein Teil des Mantels, im Februar 1992. Zum Anfang lagen die Granitblöcke einfach so herum, aber dann, als Souvenirjäger nach Lenin suchten und an seinem Ohr herumhämmerten wie an der Berliner Mauer, schütteten Forstarbeiter Sand und Schutt auf das Denkmal. Lenin war verschwunden.
Begibt man sich auf die Suche nach ihm, dort draußen im Köpenicker Forst, hat man das Gefühl, auf einer geheimen Expedition zu sein. Es gibt keine Skizze, keine Tafeln, nicht einmal mehr einen Weg. Birken und junge Kiefern biegen sich im Wind, man hört das Zwitschern von Vögeln und das Summen der Flugzeuge, die über Köpenick nach Schönefeld fliegen. Man läuft einen Berg hinunter durch Gestrüpp, sieht verschiedene Hügel, und mit etwas Glück findet man den richtigen. Den Lenin-Hügel.
Wenn man hinaufklettert, entdeckt man zwischen Sand und Ziegelsteinen auch Stuckreste und Porzellanscherben, und die Vorstellung, das könnten Reste des alten Stadtschlosses sein, macht den Ort noch unheimlicher. Mit den Ziegelsteinen hat jemand Lenins Namen geschrieben, wie auf einem Grab, und man merkt, wie man immer nur um die Steine herumläuft, aus Angst, auf sie zu treten. Wenn es einen Friedhof der deutschen Geschichte gibt, einen Ort, wo man begreift, dass man Dinge verstecken, aber nicht loswerden kann, hier draußen könnte er sein.
Der amerikanische Dokumentarfilmer Rick Minnich gehört zu den wenigen, die wissen, wo Lenin liegt. Minnich, der in Kalifornien aufwuchs und in Berlin lebt, reiste in den Neunzigern durch Ost-Europa, und überall, wo er hinkam, gab es Lenin-Denkmäler, kleine, große, aus Marmor, aus Granit. Das faszinierte ihn. So einen Personenkult kannte er aus den USA nicht. "Da gibt es Washington und Lincoln, aber keinen, der so die Nummer Eins ist wie Lenin im Osten", sagt er. Er fotografierte, er filmte. Aber ausgerechnet im November 1991, als Lenin in Berlin abgerissen wurde, war er gerade in New York, um sein Studium zu beenden, und als er wiederkam, war Lenin weg. Irgendwo am Stadtrand im Wald, hieß es.
Ein Denkmal, das einfach so verschwindet? Minnich fand das seltsam. "Ich war der festen Überzeugung, dass das alles politisch gewollt ist und irgendwo noch einer dieser Kalten Krieger sitzt und Lenin versteckt." Andreas Kämper, ein Fotograf, der den Abriss dokumentiert hatte, wusste, wo Lenin lag, und zusammen mit ein paar Freunden aus der ostdeutschen Filmszene zogen die beiden los und begannen zu graben. Einen ganzen Tag lang. Als es dunkel wurde, legten sie Zweige und Laub auf das Loch und machten am nächsten Tag weiter. Bis Lenins Kopf freilag.
Minnich hat die Aktion gefilmt und einen Film daraus gemacht. Halb echt, halb fiktiv. Ein Postkartenverkäufer vom Leninplatz, gespielt von Andreas Kämper, führt einen Amerikaner an die Stelle, wo Lenin vergraben ist. "Wir nennen so was Mockumentary", sagt Rick Minnich und zeigt auf seinem Handy die Stecknadel, mit der er den Lenin-Hügel markiert hat. Wenn der Kopf nicht so verdammt schwer gewesen wäre, sagt er, hätte er ihn sogar rausgeholt und zurück in die Innenstadt gebracht. Nicht weil er irgendeine Botschaft habe oder eine Philosophie, er finde lediglich, dass man Statuen nicht einfach vergraben könne wie Tote.
Rick Minnich ist nicht der einzige, der Lenin in den vergangenen 24 Jahren gesucht hat. Im Jahr 2003, als der Film "Good Bye, Lenin" in die Kinos kam, erinnerte man sich wieder an die verschollene Statue. Die Bürgerinitiative, die regelmäßig auf dem Hügel nach dem Rechten sah, fand tiefe Löcher im Wald vor und vermutete, dass bereits einige der Lenin-Teile fehlen könnten. Kurzzeitig fing sogar die Diskussion um Lenins Zukunft noch einmal neu an.
Es war die Zeit, als der Palast der Republik abgerissen wurde, und mittlerweile gab es viele Stimmen, die fanden, dass es besser sei, die Spuren der Vergangenheit nicht zu entsorgen, sondern im Stadtbild zu lassen, damit sich zukünftige Generationen damit auseinandersetzen können. 1992, ein Jahr nach dem Abriss, hatte sich eine Kommission mit dem Thema Erhalt von DDR-Kunst- und Architektur beschäftigt und den Abriss weiterer Statuen verhindert. 1995 wurden die Hochhäuser auf dem ehemaligen Leninplatz unter Denkmalschutz gestellt - als Beispiel für eine neue Auffassung von Plattenbau. Ein paar Jahre später schlug Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer vor, das Lenin-Denkmal vom Friedrichshain wieder aufzustellen, fand allerdings wenig Unterstützung. Noch war es zu früh.
Und so kippte das Forstamt sicherheitshalber noch mal eine ganze Ladung Schutt auf das Denkmal, um es besser vor Leuten wie Rick Minnich zu schützen, und für eine Weile kehrte wieder Ruhe ein im Köpenicker Forst. Der Hügel, inzwischen fast drei Meter hoch, wilderte immer mehr zu, mit Blumen, Büschen, kleinen Bäumen, und in dieser Zeit muss sich dann wohl die Zauneidechse hier niedergelassen haben.
Zauneidechsen sind seltene Tiere, die auf der Roten Liste der zu schützenden Tierarten stehen. Die Weibchen sind braun, die Männchen grün, sie werden ungefähr 20 Zentimeter groß und bevorzugen trockene Gebiete wie Waldränder, Heideflächen oder Kiesgruben. In Köpenick findet man viele der Reptilien. Das hat mit dem günstigen Klima zu tun. Im Osten der Stadt regnet es weniger als im Westen. Und wenn es dann noch einen Hügel im Wald gibt, in dem ein steinernes Denkmal verbuddelt ist, hat die Zauneidechse alles, was sie zum Leben braucht: einen Berg, auf dem sie sich im Sommer sonnen kann und Gesteinsritzen für den Winterschlaf. Außerdem: Holz, Sand, Gestrüpp, Pflanzen, alles durcheinander. Die Zauneidechse liebt die Unordnung, das Chaos.
Antje Stavorinus lächelt wie eine Mutter, die stolz ist auf ihr etwas verzogenes Kind. Sie ist Sprecherin der Bezirksgruppe des Naturschutzbundes Treptow-Köpenick, und die Vorstellung, wie die Eidechse, dieses archaische Tier, den alten russischen Revolutionär in Beschlag genommen hat, gefällt ihr gut. Die Vorstellung, Lenin könne eines Tages wieder rausgeholt werden, weniger. Sie habe zwar nie verstanden, warum es gerade ihm an den Kragen gegangen sei und nicht auch Marx, Engels oder Thälmann, aber für die Eidechse könne so etwas natürlich sehr stressig werden. Die Erschütterung, der Krach, wenn der Kran kommt, oder ein Hubschrauber! Die erste Reaktion der Eidechse sei, den Schwanz abzuwerfen. Es könne aber auch Tote geben. Stresstote! Auf keinen Fall dürften die Tiere im Winterschlaf gestört werden. "Wenn ich mir vorstelle, ich schlafe tief und fest, und dann wird man ausgebuddelt..." Antje Stavorinus kann den Satz gar nicht beenden.
Die Rettung kam aus Spandau, ausgerechnet, tiefster Westen, Mittelalterburg, im 19. Jahrhundert von Napoleons Truppen besetzt, im 20. Nervengaslabor der Nazis. Ein Ort voller Geschichte und Dialektik. Lenin hätte das womöglich gefallen und auch, dass es eine Frau ist, die ihn wieder zum Leben erweckt: Andrea Theissen, 62, blond, auf den Wangen Rouge, auf dem Schreibtisch Familienfotos, eine Historikerin, die über sich selbst sagt, lange die Mittelaltertante der Nation gewesen zu sein.
1990 übernahm sie die Leitung der Zitadelle Spandau und suchte nach einer Idee, einem Profil für das Museum. Aber was immer sie vorschlug, wurde abgelehnt. Archäologische Sammlungen? Kommen auf die Museumsinsel. Eine Spandauer Dependance des Deutschen Historischen Museums? Zwei Standorte sind zuviel. Es war zum Verzweifeln. Erst als ein neuer Chef der Denkmalschutzbehörde aus Stralsund nach Berlin kam, ging es endlich voran. Manfred Kühne, sagt Andrea Theissen, prägte den Begriff der Geschichtsinsel. "Damals habe ich gedacht, das ist doch viel zu hoch gegriffen, heute ist das unser Kampfbegriff."
In der Zitadelle, so das Konzept, sollten Denkmäler ausgestellt werden, die unter die Räder der deutschen Geschichte gekommen sind. Darunter Figuren der Siegesallee, 1954 bis 1978 vor dem Schloss Bellevue vergraben, und - als Beispiel für Bilderstürmerei in der jüngeren Geschichte - Wladimir Iljitsch Lenin. In Russland gemeißelt, im Polen im Schnee steckengeblieben, in Ost-Berlin aufgestellt, am Stadtrand verscharrt.
2009 wurde die Dauerausstellung "Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler" angekündigt. Historiker begrüßten die Entscheidung. Hans Ottomeyer, Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, sagte: Es sei eine spezifische Situation Berlins, dass Denkmale vergraben oder wie Schachfiguren im Stadtbild umgesetzt worden seien. Dazu gehöre auch Lenin, "ein kolossales Denkmal, ein Stück der politischen Kultur". Christoph Stölzl, ehemaliger Direktor des Deutschen Historischen Museums, sagte, es sei an der Zeit, aus den Fehlern der Geschichte zu lernen, heute würde so etwas wie mit Lenin nicht mehr passieren.
Als erstes wurden die Siegesallee-Figuren aus ihren Depots geholt und restauriert: Grafen, Kurfürsten, Bürgermeister, Generäle, Friedrich der Große, Kaiser Wilhelm. In Stein gehauene Helden der preußischen Geschichte, mit abgebrochenen Nasen und Einschusslöchern: Von Otto IV. gibt es nur noch den Kopf, von Hieronymus von Schlick nur den Rumpf. Kurfürst Distelmeier verbrachte sein Exil in einer verrauchten Berliner Schänke und musste erst einmal gründlich gereinigt werden. Konrad von Burgsdorff, heimlich von Angehörigen vor dem Abriss gerettet, stand 50 Jahre lang auf der Friedhofskapelle der Familie in Düsseldorf. Nun ist er wieder zurück in Berlin. Rehabilitiert, wenn man so will.
Auch bei Lenin schien alles gut zu laufen, so zumindest deutete Andrea Theissen das Schweigen aus dem Senat. Dass sich die Stadt nicht an den Kosten - 14 Millionen Euro - beteiligen wollte, sah sie nicht als Problem an. Theissen beantragte EU-Gelder und Lottomittel, den Rest übernahm der Bezirk Spandau. Die Hindernisse tauchten erst auf, als es um die technischen Details der Ausgrabung ging. Da hieß es auf einmal aus dem Senat, das Denkmal sei zu groß, das Ausbuddeln zu teuer. Nur den Kopf zu nehmen, wurde auch nicht für gut befunden. So ein Denkmal könne man doch nicht auseinanderreißen.
Ein weiteres Problem war die Lage Lenins. Im März 2014 baten die Museumsmacher aus Spandau die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung um Unterlagen, aus denen man ersehen kann, wo die einzelnen Teile seinerzeit vergraben wurden. Erst meldete sich fünf Monate lang niemand, dann ließ Senator Michael Müller, heute Regierender Bürgermeister der Stadt, Andrea Theissen mitteilen, es gebe keine Unterlagen, wo sich der Kopf "innerhalb des rund zehn Meter langen und zwei Meter hohen Hügels" befinde. Geophysikalische Voruntersuchungen erschienen auch "wenig erfolgversprechend". Das habe mit dem Schutt zu tun, "der kurze Zeit nach Ankunft der Teile der Statue aus Gründen deren Schutzes über sie gebracht wurde". Das Schreiben ist vom August vergangenen Jahres. Kurz darauf folgte das offizielle Nein des Senats.
Es war eine seltsame Entscheidung, und seltsam fand Andrea Theissen auch die Begründung: Wusste wirklich niemand, wo Lenin war? Wurde damals keine Skizze gemacht, kein Plan? "Nein", sagt Ex-Landeskonservator Helmut Engel, "warum sollte auch eine Skizze gemacht werden." Es sei doch Sinn und Zweck der Sache gewesen, dass Lenin verschwinde, und zwar anonym. "Zu den Figuren der Siegesallee ist ja auch kein Plan gemacht worden, und wir hatten keine Ahnung, wo wir anfangen sollten zu graben. Das erste, was vorm Schloss Bellevue zur Erscheinung kam, war der Fuß von Friedrich dem Großen."
Andrea Theissen sagt, diese Monate der Ungewissheit seien schreckliche gewesen. "Jahrelang hatten wir alles geplant, und jetzt durften wir mit keiner Firma verhandeln, keine Ausschreibung machen. Und darüber sprechen sollten wir auch nicht. Der Senat wollte, dass wir die Sache diskret behandeln." Sie machte trotzdem weiter, jetzt erst recht. "Widerstand", sagt sie, "spornt mich an." Sie begann, nach Zeitzeugen zu suchen, die wussten, wo der Lenin-Kopf lag. Einige hatten in den Medien von der Suche gehört und meldeten sich von alleine: Leute aus der Bürgerinitiative, die 1991 den Abriss verhindern wollte sowie Rick Minnich, der Dokumentarfilmer aus Kalifornien. Mittlerweile waren auch ausländische Journalisten auf den Streit um den Lenin-Kopf aufmerksam geworden. Andrea Theissen gab englischen, spanischen und russischen Medien Interviews. Ihr Telefon stand nicht mehr still. "Das waren Tage, die ich nicht vergessen werde", sagt sie.
Ende August zog der Senat, überrascht von den heftigen Reaktionen, sein Veto zurück, und Andrea Theissen wollte gerade beginnen, das Konzept zur Bergung aufzustellen, da tauchte das nächste Problem auf: jene Zauneidechsen, die sich rund um das Denkmal niedergelassen hatten. Vor Oktober 2015, forderte der Umweltausschuss des Bezirks Treptow-Köpenick, dürfe der Lenin-Kopf nicht geborgen werden, damit die Zauneidechsen fachgerecht vergrämt werden können. Oktober 2015! Da sollte die Ausstellung lange eröffnet sein.
Zu den Zeitzeugen, die sich bei Andrea Theissen meldeten, um bei der Suche nach dem Lenin-Kopf zu helfen, gehörte auch Jürgen Erichson. Er rief in der Zitadelle an und sagte, er sei der Bauleiter, er wisse noch so ungefähr, wo sie das Denkmal damals hingebracht hätten, er habe auch noch Aufnahmen von damals.
Andrea Theissen traf sich mit Erichson und ließ sein Video digitalisieren, um es in der Ausstellung zu zeigen. Die Enthauptung des Wladimir Iljitsch Lenin in Endlosschleife. Was für ein Zeitdokument! Fast besser als der Kopf selbst! Es war einer dieser Momente, in denen sie wieder an ihr Projekt zu glauben begann. Der Widerstand des Senats und des Bezirks Köpenick hatte zwar Zeit gekostet, aber irgendwie, findet sie, gehört das doch alles zur Geschichte dazu. Der Senat, die Eidechsen, die Naturschützer. Und wenn das Denkmal nicht rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung nach Spandau kommt, steht eben erstmal nur Lenins Sockel da. Und darauf eine kleine Spielzeugeidechse.
Ende September, Anfang Oktober ist der neue Eröffnungstermin, und viel hängt nun von Klaus-Detlef Kühnel ab, dem Mann, der gerufen wird, wenn in Berlin Bauprojekte durch Zauneidechsen gefährdet sind. Ein neues DHL-Zentrum in Kleinmachnow, das große Reichsbahn-Projekt in Oberschöneweide. Dann rückt Kühnel an, inspiziert das Areal und legt weitere Maßnahmen fest.
Im vergangenen September kam er das erste Mal in die Seddiner Heide, um den Lenin-Hügel zu begutachten. "Ein adultes Exemplar und mindestens zehn Jungtiere" zählte er und in seinem Bericht, einem Amtsschreiben, liest man zwischen den Zeilen auch ein wenig die Freude über die lebenslustigen Reptilien heraus, die nicht nur Lenin auf dem Kopf herumtanzen, sondern einer ganzen Stadt. Lenin, sagt er, sei ihm völlig egal, das Denkmal kennt er nur von den rosafarbenen Briefmarken, die auf den Umschlägen klebten, die ihm ein Biologenkollege aus dem Ost-Berliner Naturkundemuseum zu Mauerzeiten nach Tempelhof schickte. Bis zum Denkmal nach Friedrichshain hat er es nie geschafft, was er nicht bedauert, und dass das nun wieder ausgegraben wird, sei nichts als "Affentheater". "Vielleicht", sagt Kühnel, "finden sie ja noch Hitler oder so."
Er ist Biologe und Herpetologe, seine Brille ist rund, sein T-Shirt ein wenig bekleckert, seine weißen Haare stehen lustig vom Kopf ab. Er sitzt zwischen Plastikeimern, Klemmmappen und seiner Fototasche in einem roten Dacia und fährt durch den Köpenicker Wald zu Lenin und den Zauneidechsen. Am Schießplatz hält er kurz an, schließt ein Tor auf, fährt ein paar Meter, hält wieder an, schließt zu. Auf der anderen Seite des Schießplatzes noch einmal das Gleiche. Tor auf, Tor zu. Das Forstamt hat ihn darum gebeten. In der deutschen Geschichte mag es drunter und drüber gehen, im deutschen Wald muss alles seine Ordnung haben.
Es ist ein sonniger Nachmittag Ende April. Vor wenigen Wochen hat die Stadtverordnetenversammlung Treptow-Köpenick ihre Bedenken gegen die Ausgrabung des Lenin-Kopfes aufgegeben, unter der Bedingung, dass, "die dortige Zauneidechsenpopulation gewahrt und die Aktivitätsperiode der Tiere berücksichtigt wird". Wichtig sei vor allem, dass die Bergungsmaßnahmen "behutsam durchgeführt werden". Mit anderen Worten: Kein Hubschrauber. Das hatte sich ohnehin erledigt, denn der einzige Hubschrauber, der sich für den Transport des Lenin-Kopfes eignet, befindet sich in Bayern und hätte Andrea Theissens Budget gesprengt. Lenin wird also mit Bagger und Spaten ausgegraben, aber erst müssen die Zauneidechsen gefangen werden. 50 sind Kühnels Ziel.
Er schaltet den Motor aus, zieht den Schlüssel ab, steigt aus, nimmt Eimer, Klemmmappe, Stift und Fotoapparat aus dem Wagen. Eidechsenfangaktionen müssen genau dokumentiert werden, den Naturschützern ist das wichtig. Gerade hat einer Klage gegen den Senat erhoben, weil für den Bau eines Flüchtlingsheimes Bäume gefällt wurden, in denen womöglich Fledermäuse nisteten. Flüchtlinge und Fledermäuse. Auch kein einfaches Thema.
"Hier sind wir also bei Lenin", sagt Klaus-Detlef Kühnel und bleibt auf einer Lichtung stehen. In der Mitte der Lichtung befindet sich ein Hügel, und um den Hügel herum eine weiße Plane, die mit Sand beschwert ist. An der Plane hängen Plastiktöpfe, 26 insgesamt. Es handelt sich um Puddingcontainer, die Kühnel zu Fangeimern umgebaut hat. Der Eidechsenmann ist ein praktischer Mensch. Er geht zum ersten Eimer, beugt sich hinunter, legt den Kopf schief, um besser in den Eimer sehen zu können, sagt "nö" und läuft weiter zum nächsten Eimer. Wieder "nö". So geht das 26 Mal, um den Berg herum, auf den Berg hinauf und wieder hinunter. Keine Eidechse, nirgends. Alle Eimer sind leer.
Hm, sagt Kühnel, merkwürdig sei das schon. Von allen seinen Fangstellen sei das hier die, wo er die meisten Zauneidechsen gesehen habe, aber jetzt am wenigsten fange. Seit zwei Wochen kommt er nun schon hier raus, jeden zweiten Tag. Gefangen hat er erst eine. Vorgestern war das, im Eimer Nummer 21. Ein Weibchen. Er hat es auf die andere Seite der Lichtung getragen, dort, wo er mit Hilfe von Holz, Steinen und abgeschlagenen jungen Kiefern ein neues Quartier für die Eidechsen geschaffen hat. Kühnel schaut rüber zu dem Haufen, wo sie nun irgendwo sitzt, die einsame Zauneidechse, und auf ihre Artgenossen wartet, die sich noch verstecken. Nur wo?
Als er im September hier draußen war, saß eine direkt auf Lenin, sagt Kühnel. Jemand hatte ein Loch gegraben, man sah den Granit vom Denkmal, und darauf saß die Zauneidechse. Das sei das Komische, sagt er, manchmal sehe man ganz viele, und dann wieder suche man ewig nach ihnen. In Tibet hat er mal eine Agame fangen wollen, eine ganz besondere Eidechsenart, und dabei konnte er beobachten, wie klug die Tiere sind. Es handelte sich um eine große Fläche mit vielen Löchern, und die Eidechsen wussten genau, in welchen Löchern keine anderen Eidechsen sitzen. Dort sind sie verschwunden, bevor Kühnel sie fangen konnte.
Es klingt ein bisschen so, als sei die kluge, eigenwillige Zauneidechse aus Furcht vor Frau Theissens Bergungskolonne noch einmal besonders tief in die Mantelschöße des Revolutionsführers abgetaucht. Es soll ja ein großes Ereignis werden, hier im Köpenicker Forst. Sogar der Senat hat beschlossen, diesmal mitzuspielen, und einen Pressebus organisiert. Die ganze Welt wird dabei zusehen, wie Lenin fliegt und wie er dann durch die Stadt gefahren wird, nach Spandau in die Mittelalterburg zu den Kurfürsten und Grafen.
Lenin liegt viel tiefer im Hügel als vermutet, drei Meter, vielleicht sogar vier. Aber die Baggerfahrer kommen gut voran und finden sofort die richtige Stelle. Zwischen märkischem Heidesand schimmert das Rot von ukrainischem Granit. Der Baggerfahrer schaltet den Motor aus. Andrea Theissen klettert auf den Sandberg, schaut hinunter ins Loch. Und dort liegt er, Lenin, auf der Seite, die linke Wange oben, als würde er schlafen. Allerdings fehlt vom Ohr ein Stück, auch von seinem Schnauzbart. Im Kopf stecken vier Schrauben, und überhaupt sieht der Kopf irgendwie kleiner aus als sie gedacht hat. “Ich habe allen immer erzählt, er ist so groß wie ich, 1,70 Meter”, sagt Andrea Theissen.
Es ist ein Tag im September, der Tag, auf den Andrea Theissen sechs Jahre lang gewartet hat. Sechs Jahre lang hat sie gekämpft, und bis heute, sagt sie, hat sie nicht verstanden, warum dieser Lenin-Kopf auf so viel Widerstand stieß und am Ende alles so problemlos ging. Keine neuen Auflagen, keine vorgeschobenen Bedenken, kein Protest mehr, nicht mal von Naturschützern, obwohl nur sechs Eidechsen gefangen wurden. Sechs! Andrea Theissen lacht. Sie hat die Zahl bis zum Schluss gehütet wie ein Staatsgeheimnis, aus Angst, es könne sich doch noch jemand die Sache anders überlegen.
Zwei Tage später, an einem Donnerstag um acht Uhr morgens, wird der Lenin-Kopf in der Seddiner Heide aus dem Loch gehoben, um neun Uhr auf einem Laster festgezurrt, um halb zehn ist Abfahrt. 40 Kilometer sind es von Müggelheim nach Spandau, die Autobahn ist leer, der Berufsverkehr vorbei, alles geht reibungslos. Niemand wartet am Straßenrand, niemand schwenkt Fähnchen, niemand protestiert. Das hat damit zu tun, dass die Route geheim gehalten wurde und Lenin mit einer Plastikplane umwickelt ist, damit ihn niemand erkennt. Um 11 Uhr rollt er den Spandauer Damm entlang. Viel zu früh. Um 12 Uhr soll der Kopf erst in der Zitadelle eintreffen. Lenin muss einen Zwischenstopp einlegen, aber wo?
Geistesgegenwärtig biegt der Transporter in eine Nissan-Werkstatt ein, die sich etwa hundert Meter neben der Einfahrt zur Zitadelle befindet, ein Tieflader stellt sich davor. Die Bauarbeiter machen Frühstückspause, die Kamerateams auf dem Weg zur Pressekonferenz laufen an ihnen vorbei. Der russische Revolutionär in einer Spandauer Nissan-Werkstatt! Auf die Idee kommt niemand.
Punkt zwölf setzt sich der Transport wieder in Bewegung, rollt über die Havel- und die Burggrabenbrücke auf den Hof der Zitadelle an der Exerzierhalle vorbei und kommt hinter dem Stadtgeschichtsmuseum zum Stehen. Bauarbeiter ziehen die Plane ab, als erstes sieht man den Kinnbart, dann das kaputte Ohr, die Nase, die Stirn. Die Augen sind mit Gurten verbunden. Lenin sieht aus wie ein Strafgefangener.
Ein knallgrüner Teleskoplader fährt seine Gabel aus, Arbeiter hängen Gurte an, der Gabelstapelfahrer zieht langsam den Hebel nach unten und den Lenin-Kopf nach oben, bis er fliegt, genau wie damals, 1970, als er auf dem Ostberliner Leninplatz errichtet wurde.
Diesmal ist der Flug nur kurz, von der Ladefläche auf eine Holzpalette. So bleibt er liegen, bis die Ausstellung eröffnet wird. Wann das sein wird, ist noch unklar. Bei der Rekonstruktion der Ausstellungsräume tauchten plötzlich Probleme mit der Decke des Hauses aus, die aus der Nazizeit stammt. Erst war es der Kopf des Kommunisten, der alles verzögerte, nun ist es eine Nazi-Decke. Die Spuren der Geschichte sind unberechenbar.
Der Rest des Denkmals wird draußen in Köpenick unter dem Schutt des Berliner Stadtschlosses zurückbleiben - Lenin, kopflos. Mal sehen,wie lange.
Optimiert für Google Chrome
© 2015 Berliner Zeitung - Impressum - Datenschutzerklärung - Kontakt